Donnerstag, 24. Juni 2010

It has to be this way 2

Vom Wunsch und Fluch lebend nicht zu sein

Christine erinnerte sich nicht mehr. Aber trotzdem waren da diese Bilder, jedoch nicht in Form von Erinnerungen, sondern in Form einer Kiste mit hunderten von Fotographien, die ihre Mutter ihr ins Krankenhaus gebracht hatte. Die Bilder waren kontrastreich und scharf fokusiert, schienen aber dennoch nie ganz enthüllen zu wollen, was auf ihnen zu sehen war. Als ob unter dem Fotopapier noch eine weitere Schicht lag, versteckt und verborgen für das menschliche Auge, aber trotzdem erahnbar für den Verstand. Zumeist zeigten die Bilder verlassene Orte, dunkle Ruinen in verlassenen Landschaften mit einer scheinbar geschlechtlosen, weiss kostümierten Gestalt darin, die stets mit geneigtem Kopf in Richtung Kamera gewandt war. Man konnte aufgrund der Haltung ihr Gesicht nicht erkennen und die Haare waren unter einer reiterhelmartigen, weissen Kopfbedeckung versteckt. Ein gefächeter Kragen wie der eines Clowns umschloss ringförmig ihren Hals. Die Uniform hätte die eines Harlekins, aber auch die eines Soldaten aus dem 17. Jahrhundert sein können und ihr strahlendes Weiß verlieh ihr und der Person darin etwas geisterhaftes. 

Die kostümierte Gestalt, das wusste sie mittlerweile, war sie selbst. Aber erkennen konnte sie sich trotzdem nicht.

In Kopenhagens Statens Museum for Kunst befindet sich derzeit eine Ausstellung mit dem Namen "It Has To Be This Way 2", die so dunkel und undurchsichtig ist wie die Geschichte der Künstlerin, die sie erzählt: Lindsay Seers stammt aus England und lebt heute dort in London.
Es ist die (wahre?) Geschichte um das Verschwinden ihrer Halbschwester, Christine Parkes, die nach einem ominösen Unfall in Rom im Jahr 1999 einen kompletten Gedächtnisverlust erlitt und zwei Jahre später spurlos verschwand. Es ist die Geschichte einer Frau, die von der Idee Transzendenz zu erlangen besessen war und diese mittels okkulter Studien und Praktiken zu verwirklichen suchte. Hadernd mit ihrem eigenen Geschlecht und der unglücklichen Geschichte ihrer Vergangenheit, dem Verlust ihres Vaters, der ohne seine Tochter nach Afrika emigriert war, dem Tod ihrer kranken Mutter und dem Bruch mit ihrer Halbschwester, deren Karriere als Fotographin erste Formen anzunehmen begann, zog Christine sich zurück und vertiefte sich in ihre okkulten und kunsthistorischen Studien über vor allem die legendäre Königin Christina von Schweden, einer Schlüsselfigur seit jeher für die Geschlechterfrage und darüber hinaus für religiösen Fanatismus.

Mit dem Tod ihrers Vaters einige Jahre später kommt für Christine jedoch ein plötzlicher Wandel: Von ihrer Stiefmutter, Lindsays leiblicher Mutter, erfährt sie über die Schmugglergeschäfte, die ihr Vater in Afrika an der Westküste betrieben hatte und erbt einen Diamantenring, den sie von nun an nicht mehr von ihrem Finger abnehmen sollte. Auf der Suche nach der Geschichte des Ringes und der ihres Vaters begibt sie sich auf Spurensuche und trifft in Afrika auf ein Land, dessen Schicksal in Blut getränkt ist und verliert sich immer mehr in einem gefährlichen Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit, von Spiritualität und Wirklichkeit, von Obsession und Weltentfremdung.

Lindsay folgt ihrer Schwester im Jahr 2001, als ein unerwarteter Wegweiser ihr die Richtung angibt: Von den finnischen Behörden erhält sie die gesammelten Dokumente und Aufzeichnungen eines gewissen `S`, dessen Verbleib und genaue Identität bis heute ungeklärt sind. Das Material, das Fotos, Christines Tagebücher und Protokolle enthält, wurde in einer leeren Wohnung  bei Turku gefunden und  zeugt von einer destruktiv-possessiven Beziehung zwischen `S`und Christine und von ihren gemeinsamen okkulten Experimenten.

Ein Puzzelspiel beginnt, eine finstere Spurensuche, die bis zu Emanuel Swedenborg zurückreicht und ein verzerrtes Bild auf Schwedens Künstlerelite der vergangenen zwei Jahrhunderte wirft, auf sowohl Strindberg, als auch Ingmar Bergman und die mysteriöse Greta Garbo. Sie führt Lindsay, die ihre Reise in Foto und Film festgehalten hat, von den verlassenen Forts ehemaliger Kolonien in Afrika, in denen Sklaven gehalten und gefoltert wurden, und die heute nur noch von Geiern und Fledermäusen heimgesuchte werden, bis hinein in Stockholms Nationaltheater, wo anscheinend die verstorbene Schauspielerin und Muse Strindbergs, Harriet Bosse, ihr Unwesen treiben soll. In den verworrenen, aber hochintelligenten und poetischen Aufzeichnungen des schattenhaften `S`verwischen die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit aufs obskurste, und aus Christines eigenen Tagebucheinträgen geht hervor, dass sie während ihren Reisen und Studien unter wachsenden schweren Depressionen litt. Lindsay scheitert kläglich bei dem Versuch einer Analysierung von `S`Charakter und verliert sich bei dem Versuch, Struktur in all die scheinbar unzusammenhängenden Materialien zu bekommen, in einem surrealen Labyrinth aus Sprache und Bild. Bis zum Schluss tappt sie im Dunkeln. Genauso wie die Besucher ihrer Ausstellung in Finsternis hinein müssen,  wenn sie "den Kopf" der Künstlerin, eine begehbare und überdimensionalen Camera Obscura, betreten und dort einer surrealen Filminstallation beiwohnen.
Lindsay Seers Arbeit lässt dabei die abstrakten Begriffe von "Entfremdung" und "Ich-Verlust" plastisch werden und zeigt auf, dass egal ob durch religiösen Fanatismus, obsessive Liebe, verschleierte Identität, Lügen oder Einsamkeit hervorgerufen, die eigene Wahrheit immer dann aufgegeben wird, wenn eine scheinbar höhere sie einnimmt.
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http://www.mattsgallery.org/artists/seers/exhibition-1.php
Interview mit Lindsay Seers und Bilder der Ausstellung:
http://www.kopenhagen.dk/interviews/interviews/interviews_2010/interview_lindsay_seers/

Begleitend zu der Ausstellung gibt es ein gleichnamiges Buch, editiert und zusammengetragen von M. Anthony Penwill und kommentiert von Lindsay Seers, mit Exzerpten der Aufzeichnungen von `S`, transkribierten Audioaufnahmen von Christine, Briefmaterial und Ausschnitten des Romans "Heart of the Lion", der von Lindsays Onkel verfasst wurde und die Geschehnisse um Christines Vater und seinen Aufenthalt in Afrika schildert.

Zur weiteren Entschlüsselung der Geschehnisse hat Lindsay Seers eine Dokumentation gedreht, die in der Ausstellung zu sehen ist.

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