Dienstag, 29. Juni 2010

Existenzialismus auf die Probe gestellt

Innerhalb der letzten drei Tage sind mir folgende Dinge - wenn auch teilweise nur kurzfristig - abhanden gekommen:

1. Mein Handy
2. Mein Zelt
3. Mein Sonnenschein
4. Mein Laptop
5. Meine EC-Karte

Daher wurde ich auf die Probe gestellt: Wie unabhängig von "Dingen" bin ich tatsächlich?


1. Mein Handy
Es begann alles irgendwo zwischen Ulslev- und Tunderupstrand während meiner Fahrradtour. Ich wollte die Uhrzeit checken, denn ich war sehr in Eile. Innerhalb von 8 Stunden musste ich heute die Strecke Fakse Ladeplats bis Gedser schaffen (das sind auf der Route so ungefähr 130km), um noch vor Ende des Tages in Rostock zu sein, und hatte gerade mal die Hälfte geschafft.
Gegen 11 Uhr mittags hatte ich die Nachricht einer Freundin erhalten, die nur noch für zwei Tage in Berlin sein sollte, bevor sie wieder nach München abreiste. Daher plante ich die Tour, die eigentlich noch drei Tage in Anspruch genommen hätte, radikal zu verkürzen und Rostock schnellstmöglich zu erreichen, um von dort den Zug nach Berlin zu nehmen.
Ich wollte also, wie gesagt, zu dem Zwecke die Uhrzeit checken, ob ich denn auch gut in der Zeit lag. Ich begann ohne die Fahrt zu unterbrechen in der Lenkertasche meines Rads nach meinem Nokia Cybershot zu kramen, denn eine andere Uhr hatte ich nicht. Nach drei Minuten vergeblichen Kramen hielt ich jedoch an und begann nun systrematisch zu suchen: Notizbuch, Karte, Kerzen, Buch, Bananen, Kompass, Batterien..alles da. Nur mein Handy nicht.
Meinen letzten Stop hatte ich 8km entfernt eingelegt. Für einen Moment zog ich in Erwägung zurück zu fahren und die Stelle am Strand zu finden, wo ich die Verschnaufpause eingelegt hatte. Aber 16km Umweg alles in allem? Und womöglich war mein Handy dann nicht einmal dort. Was, wenn es irgendwie auf dem Weg verloren gegangen war? Dem Sonnenstand nach zu urteilen war es schon später Nachmittag. Viel Zeit würde ich nicht mehr bis zur 19 Uhr-Fähre haben.
Und hatte ich nicht sowieso im Laufe der Philip Roth-Lektüre darüber nachgedacht, wie unheimlich das Handy an sich eigentlich ist? Wie sehr man sich davon abhängig gemacht hat in den letzten zehn Jahren und daher zwangsweise ständig das Gefühl hat, etwas wichtiges zu verpassen oder ausgeschlossen zu sein, wenn es einmal weg ist. Ich fühlte mich plötzlich angreifbar und ein wenig hilflos. Wenn mir jetzt was auf dem Weg passiert, wenn ich falle und mir ein Bein breche, was mache ich denn dann? -dachte ich. Dann wartest du eben, bis jemand kommt - kam die Antwort.
Aber wenn jemand es findet und mir eine Monsterrechnung zusammentelefoniert? - fragte ich mich weiter. Pf! Wenn es überhaupt jemand hier in der Pampa findet, dann vermutlich ein Eichhörnchen - kam die Antwort.
Ich zauderte nicht weiter lange und fuhr weiter. Und innerhalb von wenigen Minuten hatte ich mein Handy vergessen.
Die Fähre in Gedser erreichte ich tatsächlich. Allerdings nur, da sie fünf Minuten Verspätung hatte. Vom Ticketschalter konnte ich direkt in das aufgesperrte Riesenmaul der "Prinz Joachim" fahren. Hätte ich nur einige Minuten länger gezögert, um weitere Gedanken an das Mobiltelefon zu verschweden, dann hätte ich es nicht geschafft.


2. Mein Zelt
In Rostock angekommen fuhr ich gemächlich die letzten 10km vom Hafen zum Bahnhof durch einen intensiv glühenden Sonnenuntergang und war frohen Gemüts. Es war gerade mal 21:20, bestimmt würde der letzte Zug nach Berlin erst zwischen 23 und 0 Uhr abfahren. Dies waren die Gedanken einer hoffnunglos verwöhnten Großstädtlerin.
Leider aber währten sie nicht lange. Als ich am Bahnhof ankam, war er menschenleer, die Anzeigetafel eine Tabula Rasa und der erste Zug nach Berlin fuhr erst wieder morgens um halb sieben.
Ich steckte fest. Dieses Rostock hatte etwas von einem verfluchten Ort an sich, dachte ich mir, immerhin war ich auf der Hinreise nach Dänemark aufgrund eines platten Reifens mitten auf einer asphaltierten Straße, die definitiv frei von Scherben, spitzen Steinchen oder sonstige scharfkantigen Gegenstände gewesen war, ebenfalls hier versackt. Das ganze hörte sich wie der Anfang von Stephen Kings "Tommyknockers" an. Aber gut, von mir aus, sollten die bösen Geister doch kommen und mir sagen, was sie wollten. Ich würde die Nacht einfach durchmachen und auf sie warten, denn die Option couchsurfing schied aus. Es war spät in der Nacht und ich hatte kein Handy, um jemanden anzurufen. Geld für ein Hotel wollte ich auch nicht ausgeben und eine Bahnhofsmission gab es nicht.
Um mir die Zeit zu vertreiben, machte ich mich auf den Weg ein Internetcafé zu finden, damit ich der Freundin in Berlin Bescheid über meinen und den Verbleib meines Handys geben konnte und fand in der Nähe des Hafens ich eine Spielothek.
Da ich während meines ersten Aufenthalts in Rosrock bereits über die stadtinterne Fahrradkleptomanie ihrer Bürger aufgeklärt worden war, verbrachte ich gute zehn Minuten damit, die umliegenden Seitenstraßen abzufahren, um einen sicheren Ort für Hobobike zu finden. Ich fand ihn schließlich in einer kaum beleuchteten Straße, hinter einem Strauch an einem Stahlgitter. Ich schloss Hobobike mit seinem engen Freund Abus ab und stand nun jedoch vor einem neuen, diesmal mathematischen Problem: Gegeben sind zwei Satteltaschen, ein Schlafsack, ein Zelt, eine Lenkertasche und eine Thermosflasche. Sie müssen von A nach B getragen werden, der Abstand beträgt 500m. Es gibt nur einen menschlichen Lastträger am Punkt A. Wie transportieren sie die genannten Gegenstände alle auf einmal nach B?
Tja.
Ich ging prioritär und psychologisch vor: Teure Ortliebsatteltaschen reizen den Kleptomanten schon aufgrund ihres geheimnisvollen Schultütencharakters mehr als ein Schlafsack in einem verranzten Müllsack, auch wenn der Müll und die dreckige Wäsche tatsächlich in der Ortliebtasche sind. Und das Zelt bräuchte ich vorerst nicht mehr.
Also schulterte ich die genannten drei Taschen zuzüglich zu der Hüfttasche, die ich eh 24/7 während der Tour mit mir rumtrug, und machte mich auf dem Weg zur Spielothek.

Als ich zurückkam, war das Zelt weg. Es hatte unter dem Schlafsack gelegen und beide waren mit einem elastischen Seil festgezurrt auf dem Gespäckträger befestigt gewesen, aber da war es jetzt nicht mehr. Wenigstens schien meine Mülltütenthese jedoch richtig gewesen zu sein, denn der Schlafsack war es noch, die Legende über Rostocks Kleptomanie allerdings auch.
Naja, dachte ich mir, Stadt eben. Und einmal wieder, wie so oft schon auf der Reise, wunderte ich mich über die Absurdität der Frage: "Hast du denn keine Angst?", die mir am häufigsten auf dem Weg gestellt worden war. Warum denn? - schien für mich die klare Antwort. Da sind so gut wie keine Menschen unterwegs auf den Strecken, die ich fahre, und die, die da sind, sind meistens 50+ und suchen nichts weiter als einen ruhigen Lebensabend. Wovor genau soll man da nochmal Angst haben? Vor Diebstahl, Raub und Gewalt? Oder doch nur vor den Eichhörnchen, die mir in diesem Moment eine Monstertelefonrechnung telefonieren könnten?
Ab dem dritten Tag beantwortete ich die mich verfolgende Frage nur noch mit: "Nein, ich komme aus Berlin".


3. Mein Sonnenschein
Ankunft in Berlin um halb 10 morgens nach einer durchwachten Nacht. Nachdem ich noch eine Nachricht an die Diebe meines Zeltes hinterlassen hatte - man weiß ja nie, Täter kehren oft und gerne an den Tatort zurück - hatte ich mich in der Nacht zuvor nach der zeltkleptomansischen Episode zu Fuß auf den Weg zurück zum Bahnhof gemacht, wo ich um drei Uhr morgens ankam und bis zur Ankunft des Zuges in meine Decke gemummelt Shantaram gelesen hatte. Glücklicherweise traf ich kurz vor Abfahrt des Zuges eine junge italienische Studentin mit ihrer Mutter und ihrem Freund, die mich mit ihrem Wochenendticket nach Berlin mitnahmen. Das so gesparte Geld verbuchte ich in Gedanken sofort auf mein Neues-Zelt-Konto.
Als ich in Gesundbrunnen ausstieg und Richtung Weissensee fuhr, erschlug mich die schwüle Hitze nach dem milden Küstenwetter der letzten Wochen. Zu Hause angekommen duschte ich sofort und setzte mich dann frisch und voller Elan im Sommerkleid mit meiner Freundin gemeinsam auf die Terrasse in den Sonnenschein. Kurz darauf gingen wir in die Kastanienallee zum Brunchen und saßen draußen auf ein paar Bierbänken in der prallen Hitze. Anschließend machten wir einen kleinen Spaziergang durch den Mauerpark, in dem es bekanntlich wie in Arizona auf der Steppe aussieht: Kein Schatten weit und breit, nur Steine und gelbes Gras. Nachmittags dann das Fußballspiel Deutschland - England und eine anschließende ausgedehnte Tour vom Alexanderplatz zur Fanmeile durch den Tiergarten und wieder zurück.
Das Resultat dieser schönen Outdooraktivitäten waren hunderte von kleinen Püstelchen auf meinen Armen und Beinen. Ich kenne das Phänomen nur allzu gut: Mein Vater hat eine Lichtallergie, umgangssprachlich auch als Sonnenallergie bekannt. Die Ärzte hatten mir gesagt, dass die Krankheit unter Umständen erblich ist. Als ich um die 20 war hatten sie mir allerdings auch gesagt, dass die Gefahr der Vererbung wohl vorbei und ich von der Krankheit verschont geblieben sei.
Jedes Jahr seit der ersten Vorwarnung war ich froh gewesen um jeden Tag, den ich freiärmlig, kurzbeinig, im Bikini, draußen im Freien, schwitzend in der Sonne verbringen konnte. Denn irgendwo hatte ich immer, auch nach den hoffnungsschöpfenden Worten der Ärzte am Ende meines Teenager-Daseins, das leichte Gefühl gehabt, dass es irgendwann mit dem Sonnenschein vorbei sein könnte.

(Mittlerweile stellte sich heraus, dass es sich wohl doch nur um eine Stressreaktion meiner Haut auf die körperliche Belastung gehandelt hatte. Nach dreieinhalb Tagen Kortison verschwanden die juckenden Stellen und sind seither nicht mehr wieder aufgetaucht.)

Immerhin ist im starken Kontrast zu diesen schlechten Nachrichten allerdings ein kleines Wunder passiert: Relativ halbherzig, da Eichhörnchen nicht schreiben können, habe ich am Tag meiner Heimkehr vom Handy einer Mitbewohnerin aus eine SMS an meine Handynummer geschrieben:"Dear Finder! This cellphone belongs to A Real Fishfäng. You can contact me under following address: fishy@googlefäng.com Thank you very much."
Entgegen all meiner Erwartungen erhielt ich noch am selben Tag eine Antwort und das Handy ist nun auf dem Weg zurück zu mir.

4. Mein Laptop

Mein Laptop, bzw. eigentlich Lauras Laptop, den sie mir auf unabsehbare Zeit "geborgt" hatte, war in einer Schublade verstaut im Wohnzimmer meiner WG gewesen. Da ist er jetzt nicht mehr. Und sonst auch nirgendwo.

5. Meine EC-Karte

In der Apotheke heute musste ich feststellen, dass meine EC-Karte nicht mehr in meinem Geldbeutel war. Für eine unsichere halbe Stunde musste ich davon ausgehen, dass ich sie verloren hatte, bis ich sie zwischen den Buchseiten eines vorgestern ergatterten Erich Fromms fand, wo sie aus Versehen hineingerutscht sein musste.
Innerhalb dieser halben Stunde kam ich an meine nervlichen Grenzen und aller Stoizismus fiel von mir ab. Ich wünschte mich in ein verdammtes Squatt irgendwo in Indien (--> Shantaram-Lektüre), wo man keine Laptops, Karten, Papierchen, Zettelchen, technische Firlefanzereien und sonstigen modernen Gesellschaftskladeradatsch brauchte, lachte aber im selben Moment über den Gedanken, da es sich mit einer Lichtallergie schlecht in einem so heißen Land leben lassen würde. Und lachte weiter, da ich Mimöschen schon wegen ein paar Püstelchen auf der Haut zur Apotheke rannte, sowas gibt es in Squatts nämlich im herkömmlichen Sinne nicht.


Wo ist also mein Platz?
Und soll ich mein Handy behalten, wenn es tatsächlich hier ankommt?
Brauche ich einen neuen Laptop?
Und von welchen Süchten darf man sich heutzutage frei machen ohne dass man in der Gesellschaft verloren ist - heutzutage, wo das Internet der neue Gott und das Handy eine Art natürliche Armverlängerung ist, in einer Stadt, in der alles erlaubt ist, außer kein Geld mehr haben?

......? - kam die Antwort.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen