Donnerstag, 17. Februar 2011

Der Fishfäng allein zuhaus.

Donnerstag, 17.02.11 (Tag 8) // Belgien, Büllingen (Krinkelt)

Es ist 9:27 Uhr.
Die Hundis schlafen und die Sonne steht fahl über einem frostigem Morgen. Der Horizont liegt im Nebel, aber die ersten Sonnenstrahlen dringen bereits durch ihn hindurch, direkt auf die feuchte Landstraße unten vor dem Garten. Wie eine glänzende Goldader räkelt sie sich in den angrenzenden Wald hinein und verschwindet dort in einem dunklen Grün.
Es könnte der idyllische Beginn eines neuen Tages sein; die Erfüllung der romantische Vorstellung vom schreibenden Menschen in vorherrschender Ruhe und stiller Eintracht.
Wenn da nicht ein kleines, aber entscheidendes Detail erlogen wär. Tatsächlich schlafen "die Hundis" nämlich gar nicht. Schon seit einer Weile nicht mehr. Um ganz genau zu sein haben sie eigentlich überhaupt noch nicht geschlafen. Jedenfalls nicht, solange ich versucht habe genau das zu tun.
Stattdessen wuseln sie um mich herum, legen abwechselnd ihre kalten Schnauzen oder, was Jamie betrifft, seinen versifften Ball auf meinen Schoß, während ich am Schreibtisch sitze, und stoßen damit nach oben gegen meine Arme oder nach unten, um an unzüchtigen Stellen rumzuschnüffeln. Sie stellen sich mir in den Weg, sobald ich den Platz wechseln will, folgen mir auf die Toilette, wenn konsumierter Tee und Kaffee nach Freiheit verlangt und als ich vorhin versucht habe zu frühstücken, da starrten sie mir mit solch einer Intensität auf den Mund, dass ich mir wie eine Kuh vorkam und mich bald nur noch auf das Kauen und nicht mehr das eigentliche Essen konzentrieren konnte und mich somit schnell verschluckte und einen Hustenanfall bekam.
So viel also dazu. So viel zum Thema Idylle. Tatsächlich herrscht hier in Belgien Kleinkrieg. Deutsch-belgischer Kleinkrieg. Eine Miniaturschlacht spielt sich nun schon über mehrere Tage hingestreckt ab, hier, in Krinkelt bei Büllingen und zwar im letzten Haus an der aus dem Dorf führenden Straße, jener bereits beschriebenen, welche sich da so gülden und kurvenreich direkt in den Wald hinein schlängelt und dort verliert. Hier in Krinkelt, im schönen, kleinen Krinkelt, kam es innerhalb der letzten Tage zu psychischer Folter, nächtelangen Belagerungen, strategischen Ablenkungsmanövern und sogar dem Einsatz von Biowaffen! Es war ein Kampf um Ehre und Vorherrschaft, um Schlaf und besetztes Territorium, um Willen und Macht. Aber, soviel kann ich schon verraten, es war auch ein Kampf, der mittlerweile vorbei ist. Und gewonnen hat keiner! Und eigentlich ging es auch die ganze Zeit um was anderes als um Macht, und wäre ein Diplomat oder wenigstens ein Dolmetscher zur Stelle gewesen, das alles hätte wesentlich schneller und effizienter...aber der Reihe nach:


Es fing alles damit an, dass Jamie, der jungfidele Riesenschnauzer, der jetzt gerade zu meiner Linken seinen Napf leer schmatzt, der Meinung war, nachts in meinem Zimmer oder gar in meinem Bett schlafen zu wollen. Der Meinung war ich nämlich durchaus nicht. Ich kannte Jamie schließlich noch gar nicht, und dann gleich so intim und auf engstem Raum? Also wirklich, nein, so eine bin ich nicht! Das alles interessierte Jamie auf der anderen Seite natürlich herzlich wenig, zumindest machte er mir nicht den Eindruck, sich in Empathie für das neue Alphatierchen zu üben und der Konflikt schien somit sofort unüberbrückbar. Ich verstand Jamie nicht und Jamie verstand mich nicht. Ich fand, Jamie könne ruhig wie auch die Nacht zuvor in seinem Körbchen schlafen, während Jamie das aus mir unerfindlichen Gründen offensichtlich nicht fand, oder wie sonst hätte ich seine folgenden drastischen Maßnahmen interpretieren sollen? Ab dem dritten Tag meiner Ankunft hier in Belgien begann Jamie nämlich konsequent nachts vor meiner Tür zu lagern und meine Nerven auf's gröbste zu strapazieren. Schlafentzug! Psychische Folter! Der Haudegen ließ mich einfach nicht mehr schlafen! Stundenlang jaulte und winselte er vor meiner Tür, scharrte mit den Pfoten dagegen und bellte sogar, wenn ich mal eine längere Pause zwischen meinen "Jamie, aus!"-Grunzern entstehen ließ und er sich anscheinend nicht mehr er- und entsprechend überhört fühlte. Erst gegen drei Uhr morgens ließ er ab und erschöpft und entnervt konnte ich ins Schlummerland entkommen. Aber nicht für lange. In meinem vorherigen Eintrag habe ich mich nämlich getäuscht. Wer da so getrimmt und eifrig jeden Morgen um 7 (und nicht etwa erst um 8) aufsteht, das ist nicht Jamie, sondern es ist der alte Veteran Ranko. Er legt sich dann immer an dieselbe Stelle vor die Verandatür oder unter das Klavier, so dass er gute Sicht auf die vorbeiführende Straße hat und fängt an zu bellen! Ob da nun ein Vogel vorbei fliegt, ein armer Tropf zur Arbeit im Auto vorbei fährt oder ein Nachbarhund mit seinem Herrchen vorbei trottet, spielt keine Rolle. Ranko bellt! Er bellt und bellt und bellt. Da er schon alt ist, ist es wenigstens ein gemäßigtes Bellen. Eher ein semilautes "Wu" wie in Wu Tang Klang, statt ein klar hundekehlig artikuliertes WUFF.  Das Problem ist nur, dass er seine mangelnde Qualität durch Quantität auszulotsen versucht. Und so geht es dann also los. Um 7 Uhr morgens. Wu....wu.....wu. WU....WU....wu......WUU...wu.....wu.....wu. Das war jetzt für einen vorbeifliegenden Vogel. Ihr könnt euch also vorstellen, wie sich entsprechend eine Wu-Ode an vorbeiziehende Artgenossen mit ihren Herrchen anhört.


Und so liege ich da also, verkrampft und verwurschtelt unter meiner Decke; das ist die Ausgangsposition: Ich, rotäugig und mit schwellenden Wutadern, und einem wachsenden Gefühl von himmelkreischender Ungerechtigkeit um 8 Uhr morgens in meinem Bett nach bereits einer Stunde Wu-Odenkunst. Es ist der dritte Tag in Folge, dass ich kaum Schlaf abbekommen habe. Was zum Henker mache ich bloß falsch?! Meine Gedanken drehen sich im Kreis: Ich geb den beiden täglich und pünktlich ihr Fressiefressie, geh jeden Tag zwei Mal mit ihnen raus, mach mit Jamie immer noch eine extra Joggingrunde und trotzdem bekomme ich NIE meine Ruhe. Nein, ich kann meinen Fehler wirklich nicht sehen, ich mach definitiv alles richtig. Was also haben die beiden eigentlich für ein Problem, verfluchtnochmal? Ich bin stocksauer. Als ich um 9:30 Uhr meine Schlafversuche endlich aufgebe, die Tür aufreiße und die Wendeltreppe ins Wohnzimmer runterstampfe, koche ich vor Wut. Zwei wedelnde "Wir sind fröhlich"-Antennen begrüßen mich, aber ich ignoriere sie und gehe stracks zur Kaffeemaschiene. Die wedelnden Antennen folgen mir, feuchte Schnauzen stupsen mich an. Ich ignoriere sie. Ich setze mich an meinen Tisch und trinke meinen Kaffee. Zwei große traurige Augenpaare starren mich jeweils von rechts und links an. Ich ignoriere sie. Drei Schlücke später ignoriere ich sie nicht mehr. "Was?!", fauche ich genervt, "Man wird ja wohl mal wenigstens seinen Morgenkaffee in Ruhe trinken dürfen?!" Jamie winselt. Ich dreh durch. "Ach, so, ja? Darf ich also nicht? Ne, natürlich nicht. Es geht ja immer nur um euch beide!" Ich stampfe nach oben und ziehe mir schnell was über die Schlafklamotten. "Ne, Kaffeetrinken darf Alphatierchen erst, wenn Herr Jamie und Mister Ranko ihr Geschäft verrichtet haben. Wehe, wenn euch gerade nicht der Darm platzt, also wirklich!" Ich nehme noch einen Schluck aus meiner Kaffeetasse, stelle sie dann polternd ab und zieh mir die Gummistiefel an. Die wedelnden Antennen laufen nun auf  Turbogang. Rankos Antenne klopft gegen den Wandschrank. Tong tong tong tong tong. Jamies Antenne wedelt mir gegen das Bein, er windet sich aufgeregt mit seinem Ball in der Schnauze vor mir hin und her und ich seh es schon kommen, und weiß, dass es passieren muss und ertrage es daher stoisch: Jamies dreckiger Ekelball direkt in meinem Gesicht. Auf meiner Nase. Trööt. Das hier muss eine schlechte Komödie sein. Es muss!  Langsam richte ich mich auf und atme ganz tief ein. 
"So, jetzt aber raus mit euch", presse ich hervor. Auf dem Weg dann bin ich verzweifelt. Mein Gott, wenn ich mal Kinder kriege? Mein Gott, ich werd die totschlagen! Was bin ich nur für ein schlechter Mensch!
Jamie kapiert nicht, dass ich lieber ein sauberes Stöckchen, statt seinen vollgesabberten Ball werfen will und ich werd schon wieder wütend. Gefrustet steh ich da. "Wieso versteht ihr mich denn nicht??!" Ranko ist irgendwo abseits des Weges verschwunden, mal wieder, so wie eigentlich immer. Hören tut er nichts mehr, der senile Racker, daher hilft schreien nicht. Ich bleibe einfach nur stehen, warte und fühle mich im wahrsten Sinne des Wortes hundeelend.
Endlich wieder zu Hause fülle ich die beiden silbernen Näpfe individuell je nach Hundegröße und rankoischer und jamieischer Präferenz, so wie man mir das beigebracht hat und trinke entnervt meinen kalten Kaffee, während die beiden fröhlich ihren Fraß in sich reinschlabbern. Plötzlich fasse ich einen gemeinen Plan und schiele  zu ihnen rüber. "Das ist meine Chance", denke ich mir, "Solange sie von meiner Biowaffe abgelenkt sind, kann ich mich unbemerkt zurückziehen", und schon schleiche ich verstohlen und hinter ihren Rücken an den beiden vorbei und die Wendeltreppe hinauf. Am oberen Ende liegt noch mein Laptop von letzter Nacht. Ich fasse ihn vorsichtig und bewege mich sachte Richtung Arbeitszimmer, öffne leise die Tür, trete ein und schließe sie genauso leise wieder hinter mir. Die Schlabbergeräusche versiegen augenblicklich. Ruhe! Ich setzte mich ausatmend an meinen Schreibtisch. Endlich! Ich fahre den Laptop hoch. Ich öffne das zu bearbeitende Dokument und setze mir die Kopfhörer auf. Ich wähle Bach aus und lausche zufrieden den ersten Takten seiner Johannespassion. Ich bin glücklich. Die Geigen erzeugen eine angenehme Gänsehautdramatik, während über ihnen ruhig die Oboen wie zwei Seeadler kreisen und auf den Choral vorbereiten. Und da setzt er auch schon ein: "Herrscher! Unser Heeee-e-e-eee-eeeee--herrscher! Unser Herrscher! Herrscher! Herrscher! Heee-eee-eee--auuuuu---herrscher!" Aber moment, was ist denn das? Das habe ich vorher ja noch nie heraus gehört, dieses auuuu-Geräusch. Aber es kommt mir trotzdem bekannt vor. Hm! 
Ich nehme die Kopfhörer ab.
"Oh nein."
Jamie vor meiner Tür. Jamie, wie er winselt. Jamie, wie er jault. Jamie, wie er leibt und lebt.
"Vielleicht geht er ja gleich wieder weg", denke ich mir ohne irgendwen damit zu überzeugen und setzte die Kopfhörer wieder auf. Er geht natürlich nicht weg. "Vielleicht will er was trinken", denke ich mir und starre verzweifelt auf das blinkende Leerzeichen hinter meinem letzten geschriebenen Wort von vor zwei Tagen. Ich komme kein bisschen voran. Ich kann hier nicht arbeiten. Ich dreh durch. Jamie ist schuld! Und tadaa: Schon wieder bin ich wütend. Ich stürme aus dem Zimmer an Jamie vorbei, ohne ihn dabei auch nur anzusehen, rase die Treppen runter, polter ins Bad, schlag auf den Drehhahn ein, bis endlich Wasser daraus hervorkommt und fülle das vorgesehene Becken, damit Hundi weiter Biowaffen in sich reinschlabbern kann und mich in Ruhe lässt. Biowaffen sind Futter und Wasser in diesem Falle hier jeweils übrigens wirklich, wenn man mal die Konditionierung bedenkt, nach der so ein Hundehirn funktioniert. Das Klingeln von fallenden Brekkies ins Näpfchen und das Plätschern vom Wasser ins Bidet (ja, die beiden trinken aus dem Bidet im Bad) löst zumindest bei Jamie (Ranko hört ja nichts mehr) wahrscheinlich solche Fluten von Speicheldrüsensekreten aus, dass er geradezu darin ertrinken würde, würde er seinem Drang nicht nachgeben und seiner Konditionierung folgen. Was mich auf eine fiese Idee bringt..eine wirklich fiese Idee.
Aber nein, hey. Ich bin ein fairer Kämpfer. Mit niederträchtiger Verarsche mag so manch einer vielleicht schon einen Sieg errungen haben, aber den meisten davon ging es irgendwann an den Kragen und  ich hab durchaus Respekt vor Jamies Reißern. Und auch vor Jamie selbst.
Das Bidet ist jetzt voll. Mein Kopf auch. Mit neuen Selbstzweifeln. Jamie steht hinter mir und wir sehen uns ratlos an. Was sind das nur für gemeine Gedanken, die ich da nun bereits seit Tagen mit mir rumtrage, und die mich komplett blockieren? Was ist nur mit mir los? Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Ich bin verunsichert! Ich bin total verunsichert und komplett mit der Situation überfordert. Fremdes Haus, fremde Umgebung, ständige Stille, keine Menschenseele weit und breit, aber dafür zwei wuschelige Lebewesen, die mir vertrauen und für die ich, die ich doch jeder Verantwortung stets aus dem Weg zu gehen versuche, Verantwortung trage.
Ich lasse mich geschlagen von dieser neuen Erkenntnis auf den Boden sinken und sehe Jamie dabei zu, wie er trinkt. Dann nehme ich sein neongelbes Handtuch mit den schwarzen Pfötchen darauf und trockne ihm den Bart ab. Riesenschnauzer haben nämlich Bärte. Plötzlich muss ich an Doktor Zoidberg aus Futurama denken, der hat nämlich auch einen Bart. Ich muss lachen und Jamie guckt mich an. Ranko hat mittlerweile auch bemerkt, dass alle weg sind und steht in der offenen Tür, um nach dem Rechten zu sehen. Ich tätschel den beiden die Köpfe und sage: "Da habt ihr euch mal ein schönes Psychoalphatier ins Haus geholt, was?", und das tiefe Schweigen der beiden daraufhin sagt alles.
"Ok, Plan!", sage ich zu den beiden, "Wir versuchen das jetzt anders."
Ich verlasse das Bad, gehe durch den Korridor und steige wieder die Wendeltreppe nach oben in Richtung meines Arbeitszimmers. Jamie und Ranko folgen mir auf den Versen, bleiben allerdings am Fuß der Treppe stehen und ich meine einen leicht panischen Ausdruck in Jamies Augen zu erkennen. "Ruhig, Junge!", sage ich beschwichtigend, "Ich sagte doch: Wir machen das jetzt anders. Du wirst schon sehen."
Ich gehe also weiter in mein Arbeitszimmer rauf und setze mich an den Schreibtisch. Die Tür lasse ich dabei aber dieses mal offen. Im Prinzip hat Jamie ja nämlich Recht. Was würde denn ich an seiner Stelle tun? Da kommt so ein Fremder in mein Haus, stellt sich kurz vor, lässt sich ab und zu mal blicken, um rumzumeckern, und verkriecht sich den Rest der Zeit in "seinem" selbsternannten Chefbüro, welches er so nebenbei und mit aller Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch genommen hat ohne wenigstens vorher mal nachzufragen. Da würde ich mich doch auch misstrauisch fragen, was der da drinnen die ganze Zeit wohl so macht und mir ein bisschen verarscht vorkommen. Und dann die Sache mit dem Futter: Wenn man mir mein Fressen einfach so lieblos hinschmeißen würde, ohne dass ich dabei das Gefühl hätte, dass es hierbei wirklich um mich ginge, sondern vielmehr nur um eine lästige Dienstleistung, dann fände ich das doch auch nicht sonderlich erquickend! Klar, in einer Mensa und einem Restaurant kann man das so machen, aber hier sind wir quasi eine 3-erWG. Ja, doch. Ich würd mich an Jamies Stelle auch beschweren: "Heee, ich wohn hier schon viel länger als du! Wie führst du dich denn auf? Nu komm doch mal runter, damit wir uns kennenlernen können!"
Und siehe da, keine zwei Minuten später steht Jamie in der Tür.
"Hallo, komm rein", begrüße ich ihn und er lässt sich nicht lange bitten. Wahrscheinlich vermutet er aber trotzdem einen Hinterhalt, jedenfalls beschnuppert er erstmal sehr vorsichtig die ganze Situation und alle Gegenstände, die sich darin befinden. Zuletzt kommt er dann zu mir, lässt sich auf seinen Hintern plumpsen und schaut mich an. Ich kraul ihn hinter den Ohren.
"Schau mal", sage ich dabei, "das hier ist mein Laptop. Du hast dich bestimmt schon gefragt, warum ich da den ganzen Tag so beeumelt drauf starre. Muss ziemlich lächerlich wirken. Aber weißt du, bei mir läuft das mit der Konditionierung so: Wenn ich einen guten Gedanken habe - oder auch mal nen Schlechten -dann MUSS ich den aufschreiben. Siehst du hier? Das sind Tasten. Deswegen mach ich immer so komische Geräusche wie ein überdimensional großer Käfer, der rumwuselt und dabei mit seinem Chitinpanzer gegen jede Wand und jeden Gegenstand stößt, der auch nur im Weg steht."
Jamie gähnt.
"Jaja, ich weiß. Du bist nich der einzige, der das langweiligt findet. Aber sieh es mal so: Wenn ich nicht so faul den ganzen Tag rumsitzen würde, dann hätte ich bestimmt als nicht die Energie mit dir und deinem Ball joggen zu gehen, hmm?"
Jamie blinzelt. Ich blinzel zurück. Das ist noch ein Atavismus aus der Zeit, als ich Wellensittichfanatikerin war. Zwischen Wellensittichen bedeutet gegenseitiges Zublinzeln sowas in der Art wie "Ich tu dir nichts, du tust mir nichts." Ich kann jetzt also nur hoffen, dass es auf Hundisch nicht das komplette Gegenteil bedeutet. Jamie steht auf. Ich verfolgte seine Bewegungen gespannt. Gelassen schaut er mich an und beginnt dann, sich um die eigene Achse zu drehen ohne dabei die Augen vom Teppich abzuwenden. Ein kleiner innerer Triumphschrei macht sich in mir breit. Dieses Gehabe an ihm kenne ich bereits. Und tatsächlich, nur wenige Sekunden später rollt Jamie sich zufrieden auf dem Boden zusammen, gibt einen letzten Seufzer von sich und bettet die Riesenschnauze auf den gefalteten Pfoten.
Ich drehe mich ebenfalls auf meinem Stuhl. Allerdings nur um 90°, so dass ich den Bildschirm wieder vor mir habe. Ich nehme einen tiefen Atemzug, straffe die Schultern und beginne zu schreiben.
Später beginnt Ranko dann eine neue Wu-Ode zu komponieren. Aber ich bleibe gelassen. Ich nehme den Laptop und gehe damit runter, setze mich kurz zu Ranko, schaue mit ihm raus auf die Straße, gebe ihm Recht, dass das alles echt schön da draußen und viele weitere noch unkomponierte Wu-Oden wert ist und Ranko hechelt zufrieden, wedelt mit dem Schwanz und trottet dann zurück in sein Körbchen und rollt sich zusammen, und ich gehe zurück an meinen Laptop und schreibe weiter.


Wie einfach doch die Dinge sein können! Und wie blind das Einfühlungsvermögen! Und wie blind die Wut. Narzisstisch und engstirnig ist sie, die Wut. Meine beiden Jungs hier wollten nämlich gar nicht ständig im Mittelpunkt stehen, wie ich zuerst dachte. Sie wollten gar nicht meinen Herrschertitel im Hause anfechten, wie ich es in meinem verunsicherten und angstverzerrten Zustand vermutete. Und genausowenig wollten sie, dass ich meinen Kaffee kalt werden lasse und deswegen rumstänker. Und am allerwenigsten wollten sie, dass ich wahnsinnig werde vor lauter Schlafmangel und wie eine Furie durch ihr Haus wüte, um die nächste Blairwitch zu werden. Nein, sie wollten einfach nur nicht alleine sein. Sie wollten nicht ausgeschlossen werden. Plötzlich macht es alles Sinn.
Fast wäre ich vom gerechten und sein Volk liebenden Herrscher im letzten Hause Büllingens zum Tyrann selbigens geworden. Einer jener Idioten, der für Selbstverständlichkeiten wie Brot und Wasser ständige Dankbarkeit von seinen Untertanen fordert und wütend um sich schlägt, wenn sie dann mal an seine Tür klopfen, um dem Herrscher Vorschläge zu unterbreiten, wie man ein gemeinsames Miteinander im Reich besser gestalten könnte oder um das bisherige Beisammensein konstruktiv auszuwerten oder um einfach nur mal Hallo zu sagen.
So einfach könnten die Dinge sein.



Später in der Nacht, als ich mich zum Lesen zurückziehe, kommt Jamie dann wieder an meine Tür und jault. Sofort stehe ich auf und öffne. Jamie kommt herein, schaut sich um und ich geh währenddessen zurück in mein Bett und nehme mein Buch wieder in die Hand. Jamie schnüffelt ein wenig herum und setzt sich dann einige Minuten neben mich ans Bett. Geistesabwesend und in mein Buch versunken tätschel ich ihm den Kopf und bemerke dabei kaum, wie er sich nur wenig später wieder entfernt, aus dem Raum trottet und hinab in sein Körbchen krabbelt. Eine viertel Stunde später schließe ich unbesorgt die Tür, mache das Licht aus und schlafe sofort ein.
Am nächsten Morgen um 7 stehe ich dann püntklich zum Beginn des Wu-Oden-Vortrags auf, schlürfe müde zu Ranko hinunter, tätschel ihm den Kopf und murmel: "Ich bin doch da. Es ist doch alles gut. Geh wieder in dein Körbchen." Und siehe da...bis um 9 Uhr schlafe ich in aller Seelenruhe und ungestört durch. Dann kommt Jamie an die Tür und befindet sachte, aber hörbar, dass es nun Zeit für die olle Schlafmütze sei endlich aufzustehen. Ich stimme ihm zu und trinke unten gemächlich meinen Morgenkaffee, während Ranko und Jamie mir dabei zusehen, ab und zu ihre Köpfe auf meinen Schoß legen und gemütlich warten, bis sie wieder an der Reihe sind.

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