Mittwoch, 9. Februar 2011

Der Fishfäng allein zuhaus.

Mi, 09.02.11 (Tag 1)// Belgien, Böllingen Büllingen


Es ist 12:07. Der erste Tag.
In diesem Haus ticken keine Uhren. Alles ist digital.
Die Zeit verrinnt unauffällig und zurückhaltend, geradezu schüchtern. Hier auf dem Land ist es definitiv eine andere Zeit als in der Stadt. Das merkt man sofort. Es ist eine Zeit, die nicht ständig bemessen, präzisiert, erschöpft, durchdacht oder erarbeitet werden will. Man muss ihr hier nicht hinterher rennen, sie nicht im voraus planen oder sie gar segmentieren und in eine Tabelle einfügen. Die Landzeit ist einfach nur da. Ganz im Gegenteil also zur Stadtzeit, die eigentlich nie da ist, zumindest nie so richtig. In den Städten müssen wir sie ständig suchen, die Zeit, hinterm Feierabend und in langen schlaflosen Nächten, wir suchen sie im Internet und am Boden von leeren Flaschen. Wo ist sie nur, die Zeit für uns selbst, die wir so nötig haben? Wir scheinen ihr immer ein wenig hinterher zu hinken.


Und trotzdem: Hier auf dem Land macht sie mir nun ein wenig Angst, die Zeit, in ihrer so gegenwärtigen Präsenz. Denn während man in den Städten immerhin ab und an von sich behaupten kann, man habe Zeit und sie somit wenigstens hier und da - hat man sie ersteinmal eingeholt - vereinzelt besitzt,  so hat man hier auf dem Land stets das Gefühl, der Besessene zu sein. Es ist ein wenig wie in der russischen Sprache, in der es das Verb "haben" so wie bei uns im Deutschen verwendet nicht gibt. Wenn man im Russischen also sagen will: "Ich habe einen Hut", dann muss man sich anders ausdrücken, und zwar mit Hilfe der Konstruktion "bei + Besitzer im Genitiv". Es heißt dann also: "Der Hut ist bei mir".
Die Zeit ist bei mir. Die Zeit ist bei mir.
Das klingt ungewohnt und so fühlt es sich auch an. Es regiert hier nicht länger der Besitzende den Gegenstand, sondern der Gegenstand den Besitzer. Die Zeit ist bei mir. Sie war bei mir heute morgen im halb 9, als ich aufstand und verschlafen die Treppen zu Ranko und Jamie runter polterte. Sie lag die ganze Nacht zuvor auf mir, als ich versuchte zu schlafen. Sie begeleitete mich dann hinaus in die raureifverhangene Luft, rechts den kleinen Waldweg hinauf zu der Koppel, auf der die zehn Hengste mir eine nervöse Minute nach der anderen die Karottenstückchen von der Hand fraßen, zumindest bis mir dieses eine gierige Vieh von einem Leithengst die Finger anknabberte und ich merkte, dass selbst meine Gliedmaßen in ihrer Existenz der Zeit unterworfen waren. Sie führte mich dann ein wenig erschrocken, aber stetigen Schrittes wieder den Weg zurück nach Hause, die Zeit, und wies mich ausdrücklich darauf hin, dass sie für Ranko langsamer verläuft als für Jamie und für Jamie schneller als für mich; so bildeten wir eine kleine Kolonne: Jamie an der Spitze der Zeit, ich in ihrer Mitte und Ranko an ihrem Ende.


Zu hause auf dem Ergotrainer wurde sie dann zum hetzerischen Dikator und ließ mich jede ihrer Minuten wie einen Peitschenhieb spüren. Unter der Dusche danach jedoch zeigte sie sich wieder respektvoll und wandte ihr Antlitz ab bis ich fertig war. Jetzt sitzt sie neben mir und schaut mir beim Schreiben zu.
Ich bin noch ein wenig misstrauisch ihr gegenüber. Ich weiß noch nicht so recht, ob sie mir Gutes oder Schlechtes will. Ich sehe wie Jamies Brustkorb sich gemächlich unter ihrem Gewicht hebt und senkt, das schwarze Fell schimmert in der Wintersonne, aber auch, wie Rankos dreizehnjähriges Labradorleben unter ihr ächzt und stöhnt. Und auf der Welt geht sie ganz normal weiter. In Deutschland werden Reformen von endlosen Debatten über ihre sinnvolle Nutzung geführt und dabei noch bevor Schlüsse gezogen werden von ihr verschluckt: Bye Bye, Pimp-My-HartzIV-Programm. In Ägypten auf den Straßen bleibt sie weiterhin stehen und holt tief Luft, bevor sie weiterrasen und ihren Rückstand aufholen muss. Und in Österreich hat sie Thomas Bernhard vor achtzig Jahren den musikalisch plappernden Mund zum ersten Mal Luft schnappen lassen, nur um ihn achtundfünfzig Jahre und drei Tage später wieder für immer zu versiegeln. Tja, aber hier in Belgien? Was treibt sie hier? Hier muss sie sich noch entscheiden, muss ich mich noch entscheiden, ob sie mein stiller Weggehfährte oder ein mich in Ketten legender Sklaventreiber  wird.



"Older Chests"

Older chests reveal themselves
Like a crack in a wall
Starting small, and grow in time
And we always seem to need the help
Of someone else
To mend that shelf
Too many books
Read me your favourite line

Papa went to other lands
And he found someone who understands
The ticking, and the western man's need to cry
He came back the other day, you know
Some things in life may change
And some things
They stay the same

Like time, there's always time
On my mind
So pass me by, I'll be fine
Just give me time

Older gents sit on the fence
With their cap in hand
Looking grand
They watch their city change
Children scream, or so it seems,
Louder than before
Out of doors, and into stores with bigger names
Mama tried to wash their faces
But these kids they lost their graces
And daddy lost at the races too many times

She broke down the other day, yeah you know
Some things in life may change
But some things they stay the same

Like time, there's always time
On my mind
So pass me by, I'll be fine
Just give me time
Time, there's always time
On my mind
Pass me by, I'll be fine
Just give me time

Verweise:
  • Die haben-Konstruktion im Russischen - http://www.russlandjournal.de/russisch/sprachuebungen/haben-nicht-haben/ 
  • Thomas Bernhard in seinem letzten Gespräch - http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13499672.html
Nachtrag, 18:04 :

1. Was labern denn die alle nur von Thomas Bernhard? Dostojewski ist heute vor 130 Jahren gestorben!
2. Wenn ich jogge, dann sind Jamie und ich in der gleichen Zeit :)

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