Montag, 19. August 2013

Die Gottesparty

Berkely, California / Sonntag, 18.08.2013 / 11:30


Ich frisch angekommen in Berkeley mit SF im Rücken.
Natürlich sind Psychologie, Religion und Astrologie drei komplett verschiedene Paar Stiefel. Dennoch fällt es mir manchmal schwer, sie voneinander zu trennen. Zum Beispiel heute, da ich an meinem ersten Tag nach der gestrigen Ankunft in Berkely, California, einer "Messe" - meiner ersten Messe in dieser Form überhaupt, ich nenne sie mal eine Gottesparty - im Covenant Worship Center beiwohnte. Das kam so:

Am Morgen hörte ich Musik durch die Fenster von der gegenüberliegenden Straße herein dringen. Laute, energiegeladene Musik irgendwo zwischen Jazz und Blues, die selbst den Motorlärm der vorbeifahrenden Autos auf der San Pablo Avenue übertönte. Dave, bei dem ich gerade wohne, schlief noch, hatte mir aber eine Stunde zuvor schlaftrunken im Bademantel die Schlüssel zu seinem Haus überreicht.

Die für mich etwas unerträgliche Situation war, dass ich Heimweh, aber kein Internet hatte, Bewegungsdrang, aber keinen Stadtplan, Lust zu duschen, aber keine Ahnung, wie die warme Dusche funktionierte. Also nahm ich kurz entschlossen den Schlüssel an mich und dachte mir: Einfach nur raus!

Eine gute Entscheidung, wie sich heraus stellen sollte, denn kaum, dass ich vor dem sonntags leider geschlossenen Buchladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand, hatte ich einen Wi-Fi Empfang auf meinem Handy und die warme kalifornische Sonne auf meinem Rücken. Die Musik allerdings war mittlerweile leider verstummt und so sah ich mich etwas enttäuscht und ratlos um.

Nur zwei Häuser weiter sah ich auf einmal drei komplett in Weiß gekleidete Gestalten aus der Tür heraus treten. Alle drei männlich und dunkelhäutig mit einem Leuchten im Gesicht, und langsam dämmerte mir, was ich da am Morgen gehört hatte. Gestern hatte ich bereits gemeinsam mit Dave festgestellt, dass es in den Staaten zwar abertausende von Kirchen gibt - meistens von einer privaten Gemeinde betreut und gegründet, in einfachen Häusern untergebracht und simpel und minimalistisch gehalten -, aber trotzdem nur selten Kirchengeläut. Diese Stille musste irgendwie kompensiert, der Herr auf andere Art und Weise angerufen und gepriesen werden, zum Beispiel mit Gospels!

Nun bin ich ja sicherlich nicht die einzige, die spätestens seit Sister Act davon träumt, einmal an einem "Schwarzen Gottesdienst" teilzunehmen und so ging ich auf das Haus zu. Ich trug eine schwarze Bluse und dunkle Blue Jeans, mein Haar war nicht gewaschen (das Duschproblem) und generell sah ich einfach nicht sehr festlich aus. Ob man weiß gekleidet sein muss, um teilnehmen zu dürfen?, fragte ich mich. Ob man schwarz sein muss, um eingelassen zu werden?, fragte ich mich weiter. Und schließlich: Kann ich als schwarz gekleidete Weiße so dreist sein und überhaupt erst fragen, geschweige denn eintreten? Vor dem Haus blieb ich also stehen und sah mich unsicher geworden um. Über dem weißen Haus stand in großen schwarzen Lettern: COVENANT WORSHIP CENTER. Meine momentane Bleibe, Daves komplett in Bordeauxrot gehaltenes Haus, war nur knapp 20 Meter entfernt. Bordeauxrot ist zusammen mit Dunkelblau meine Lieblingsfarbe...

Da trat eine Frau mit ihrem kleinen Sohn aus dem Haus heraus und lächelte mich an. Damit war der Bann gebrochen. Statt halb Daves Haus und halb dem Worship Center zugewandt zu bleiben, drehte ich mich nun komplett der Frau zu. Ob der Gottesdienst ausschließlich für die Gemeinde sei, fragte ich sie. Sie lachte. Und zwei Minuten später befand ich mich schon inmitten der Gottesparty.

"Emotions ain't always a source, they're often symptoms!" Der Prediger schritt aufgewühlt die Bühne in dem komplett weißen Raum auf und ab, seine Stimme überschlug sich förmlich und die Worte sprudelten in einem Fort aus seinem Mund. Neben ihm lief auf einer Leinwand eine PowerPoint Präsentation, darunter war die Facebook Adresse des Centers angegeben.
"Anger for example ain't no source, I tell you! Anger is a symptom! And its source is fear! Fear to get hurt!" Hände reckten sich ihm unter den weißen Girlanden entgegen und versperrten mir die Sicht. Im ganzen Raum war Bewegung, weiße sich hin und her wiegende Körper und schwarze, wippende Köpfe.
"Being defensive is nothing but a sympton! And its source is fear to be criticized."
Ich saß ruhig auf meinem Platz, spürte aber, wie ich eine Gänsehaut bekam, wobei ich in dem Moment noch nicht genau sagen konnte, weshalb.
"Jealousy is a sympton! And its source is fear of not being good enough. Do you think you're not good enough?"
Oh God, oh God!, fing eine ältere Dame direkt vor mir mit einem weißen Tüllhut an zu stöhnen und warf die Arme über den Kopf. Aber der Prediger kannte kein Erbarmen und der Schweiß brach ihm aus allen Poren, während er unerbitterlich weiter auf uns einpredigte.
"Cause I tell you, that motion is wrong! God loves you! God thinks you're good enough! If only you got trust and faith, you'll feel it! And if God means faith and trust, then I ask you: Whose work is the fear, hu?" Eine Stille trat ein. "I guess you haven't got me there, ey? I say, who lures behind the fear? Who is the fear?" The Devil, the Devil, the Devil, raunte es einstimmig durch den ganzen Raum und für einen Moment kam ich mir wie auf einer anderen Art von schwarzem Gottesdienst vor.

"And this is why you must carry your Faith on your shoulders!" Er stand jetzt ruhig hinter seinem Pult und sah beschwörend auf uns herab. "You must carry it on your shoulders and it ain't as easy as some Christians want us to believe. No, it is very heavy sometimes and yes, it is a burdon! It is our burden and we all have to carry it!"

Ein einstimmiges Nicken geht durch die Reihen. Einige vornehmlich weibliche Gottesanbeterinnen nehmen sich inbrünstig in die Arme oder fassen sich an den Händen. Ich merke, dass wir uns langsam der Klimax nähern, die Anspannung im Raum verlangt nach Entladung und anders als auf weißen Gottesdiensten, wo nicht einmal Klatschen erwünscht ist, ist hier alles Vorbereitung auf eben diese Entladung.

"Now I ask you: How comes we so often don't feel our real emotions outside of these walls but just the symptoms? Can you feel when you are at your work? With your family at home? Do you feel alive out there?"
Bebende Schultern überall und dieses Mal weiß ich genau, woher meine erneute Gänsehaut kommt, denn spätestens ab diesem Moment bin ich nicht mehr nur Beobachter, sondern sitze selbst mitten drin im Gefühlserdbeben, bin Teil von dieser Gottesparty geworden.
"You have to be bold, I tell ya! Bold to fight your fear! Bold to fight the devil!" Er reißt sich plötzlich das Jacket vom Leib und springt mit einem riesen Sprung von seinem Pult herab direkt vor die erste Reihe. Alles kreischt und tobt, kaum noch einer hält sich auf seinem Sitz - ich schaffe es gerade noch so, mich an meinem Stuhl festzuklammern.
"Jump into the water I tell you! Jump! Don't stand in front of it and tip your toes into the surface while all others swim their rounds right through it!" Und da erst merke ich, dass plötzlich eine Band auf der Bühne ist und mit einem einleitenden Jauchzen des jetzt nicht mehr hohen Priesters, der unten bei seinen Schafen vor der Bühne geblieben ist, geht auch schon die Musik los.

Die Dame im Tüllhut dreht sich plötzlich nach mir um, strahlt über das ganze Gesicht und streckt ihre Hände nach mir aus. Ich lasse sofort meinen Stuhl los und ergreife sie. Drei Sekunden später drücke ich die kleine Frau auch schon fest an mich und die tüllumfasste Krempe von ihrem Hut kitzelt mich unter der Nase. Noch ein paar Sekunden später stehe ich mit ihr vor der Bühne und kann endlich das Gefühl fassen, das mich ergriffen hat: Der Astrologe nennt es Schicksal oder Bestimmung, der Mann vor mir in seinem verschwitzten Hemd, der jetzt hingebungsvoll von Gott singt, nennt es Teufel! Der Psychologe nennt es das Ich und der Atheist nennt es mit einem ironischen Lächeln 42. Und doch ist es eigentlich immer derselbe Kampf, der da ausgefochten werden muss mit demselben Gegner und ich nenne ihn: Das Leben!

Schwarze Weiße umarmt weiße Schwarze: Die Tülldame und ich nach der Gottesparty.

Mehr als fünfzehn fremde Menschen umarmte ich in den darauffolgenden Minuten. Nasse, klebrige Wangen und weit ausgebreitete Arme überall. Der kleinen Tülldame lief das Wasser nur so über Stirn und Mund. Um uns herum ein wild tanzendes Menschenmeer aus Emotion im flüssigen Aggregatzustand! Was soll ich sagen? Viel anders als ein gutes Konzert fühlte sich das auch nicht an! Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelter Spaß! Ich tanzte wie eine Wilde!

Das Duschproblem zu Hause war dann zum Glück schnell behoben. Manchmal heißt das Motto eben doch nicht "Reinhüpfen und los geht's!" Denn nur mit ein wenig Geduld und hartnäckigem Warten wird auch das kälteste Wasser irgendwann warm...

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