Donnerstag, 1. April 2010

Dieses Buch wird euer Leben verändern

Ein endlicher Spaß - Die Bibel unserer Gesellschaft





Wenn man idealerweise davon ausgeht, dass ein Leser knapp eineinhalb Minuten für eine Romanseite braucht, dann könnte man folglich innerhalb von ungefähr vierzig schlaflosen und leseintensiven Stunden mit David Foster Wallaces 2008 im Deutschen erschienenen Roman Unendlicher Spaß” abschließen. Eigentlich. Tatsächlich aber liest sich diese 1.545-seitige Gesellschaftsbibel mit ihrer scheinbar unendlichen Vielschichtigkeit, ihren multiplen Polycharakteren, einer sich selbst ironisierenden Ironiehaltung und dabei doch einem existenziellen Tiefgang, der einen schlichtweg mit sich reißt, nicht einfach so schnell herunter. Nicht zuletzt wegen Wallaces sich scheinbar spielend durch sämtliche Fachjargons bewegender Eigensprache, die sowohl den Klang einer Kinderstimme, als auch den eines hochbegabten Mathematikers adaptieren kann. Nicht zuletzt auch wegen den mehr als hundert Seiten umfassenden Anmerkungen und Errata am Ende des Buches.


Hier wollte ein fremdwörtervernarrter Mann alles bis ins kleinste Detail darstellen, nicht um anzugeben, sondern um die Komplexität unserer modernen Gesellschaft zwischen einem Buchdeckel und einem Buchrücken einzufangen. Und dies gelang ihm glorios. Hier wurde ein fiktionaler Gegenwarts- (das Buch spielt in unserem Jahrzehnt) und doch gleichzeitig auch Zukunftstsroman (geschrieben und veröffentlicht hat Wallace “Infinite Jest” in den 90ern) geschaffen, utopisch und realtitätsnah zugleich, der wissenschaftlicher nicht sein könnte und teilweise an Größenwahn heranreicht, wenn sich die Abweichungen der Abweichungen weiter von sich selbst fortbewegen, nur um dann doch nirgendwo hinzuführen, wie “involutierte Spiralen auf denen man nie irgendwo hinkommt", um Wallaces eigene Worte zu gebrauchen.


Am Ende der modernen Parabel angekommen, endlich, weiß der Leser dann nicht mehr, ob er nun Geschafft! oder Alles vorbei!” oder einfach nur „Heilige Scheiße!“ wie Dave Eggers denken soll.
Ähnlich verwirrt sind auch Wallace Figuren, die allesamt mehr oder weniger in jenem Dilemma stecken, welches man als das Hauptmotiv von Unendlicher Spaß“ festmachen könnte, nämlich dem Dilemma eines Süchtigen: Schafft er es aus seinem Drogendunst heraus, stagniert etwas in seinem Leben, es wirkt (oder ist? Diese Frage, wie so viele andere, lässt Wallace offen) plötzlich sinnlos und oberflächlich. Verweilt er jedoch, verfällt er ebenfalls dem Stumpf- oder Wahnsinn, nur eben nicht bei vollem Bewusstsein. Ob da der Spaß” von natürlichem oder künstlichem Charakter ist, spielt erst einmal keine Rolle: Vom Ruhm- oder Sexsüchtgen über den Haschischkonsumierenden bis hin zu den ernstlich Narkotikaabhängigen; sie alle sind bei Wallace bis auf wenige Ausnahmen nicht zu einem grandiosen Scheitern, aber auch nicht zu einem Durchbrechen des Teufelskreises prädestiniert und verharren so inmitten ihrer Ambivalenz, wartend darauf, dass etwas passiert. Aber was? Und der Leser verharrt mit ihnen und wartet vergeblich auf eine Entwicklung, auf Antworten oder wenigstens auf ein richtiges Ende und lernt dabei irgendwann, über sich selbst zu lachen, während er die Weisheiten von Foster Wallace in sich aufsaugt, wenn er z.B. seine liebevoll ausgemalte Figur des körperlich und geistig zurückgebliebenen Mario Incandenza sagen lässt: Echt echte Sachen dürfen nur erwähnt werden, wenn man gleichzeitig die Augen verdreht oder auf nicht glückliche Weise lacht.



Wallace hält unserer neurotischen Gesellschaft mit Unendlicher Spaß” einen Spiegel vors Gesicht, der nicht zuletzt deswegen seine Wirkung nicht verfehlt, da die Biographie des Autors selbst aus seinem Buch entnommen hätte sein können. Wie seine zentralen Figuren James und Hal Incandenza, Vater und Sohn, hatte er in seiner Jungend zuerst vehemente Haschischprobleme, welche seine Karriere als aufstrebender Tennisstar erschwerten, fiel aber schon früh durch geistreiche Abhandlungen als Intellektueller auf, machte seinen Professor zuerst in der Mathematik, dann in der Literatur, dann in der Philosophie, wobei ihm wiederum ein aufkeimender Alkoholismus und ständige Depressionen erschwerliche Weggefährten waren und auch später am Pomona College, Kalifornien, wo er in Creative Writing unterrichtete, bleiben sollten. Das Verstörendste an einer autobiographischen Lesart von "Unendlicher Spaß" ist jedoch die Antwort, die Wallace sich anscheinend selbst letztendlich auf die von ihm artikulierte Frage nach der Problematik unserer haltlosen Gesellschaft gegeben hat. Denn im September 2008 erhängte er sich mit nur 46 Jahren.
Es ist schwierig bei diesen Fakten, bei dieser Person und diesem Roman keinen Geniekult zu betreiben. Wahrscheinlich wird man so wie die zahlreichen Protagonisten in Wallace Werk selbst auch im Laufe der Lektüre süchtig nach der gelieferten Unterhaltung, nach Wallace Worten und seiner Gabe das Gefühl des Nichtfühlens zu artikulieren, neben seiner still doch immer durchscheinenden Suche nach den elementaren Dingen im Leben, nach Liebe, nach Wärme, nach Stabilität. Es ist ein fast schon visionäres Gefühl, das einem überkommt, wenn man die komplexe Welt von Unendlicher Spaß“ auf der letzten Seite verlässt. Als läge die Antwort auf alles zum greifen nahe. Als könnte man tatsächlich etwas ändern.

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