Samstag, 19. Juni 2010

Radwanderweg Berlin-Kopenhagen

Impressionen meiner Hobobike-Tour von Berlin nach Kopenhagen - aus jedem Zusammenhang gerissen:

Tag 1:

Warum Fahrradfahren toll ist: Man fährt und sieht einen Vogel vor sich über den Weg hüpfen. Man denkt das Wort "Stiglitz" und freut sich darüber, da man glaubte, dieses Wort schon längst vergessen zu haben.

Uhrzeit: 22:15

Ich hab Kerzen. Ich habe ein Buch. Ich hab Reis mit Käsesosse. Ich hab Bananen. Ich habe nackt gebadet und bin von einem Baum ins Wasser gesprungen. Ein alter Mann ist ein Stück des Weges mit mir gefahren und Philipp, 17, hat mich gefragt: "Wie, du hast keinen Freund? Warum nicht?" Ich habe Liebesbriefe von Sabrina an Alex. Ich hab Pflaster an meinen aufgeschürften Fingern. Ich hab ein Insektennetz. Ich hab keine Angst. Ich hab das Leben.




Briefe von Sabrina an Alex.




Baum, Wasser und Philipp, 17.


Tag 2:

Uhrzeit 20:49

- Fingerkuppen schmerzen
- Zeltplatz nur befriedigend heute
- Nacht wird definitiv unbequem werden und ausserdem unheimlich: Gestrüppäste an der Zeltplane
- unglaublich: Ich habe heute sage und schreibe 8 Liter Flüssigkeit zu mir genommen, darunter sogar ein Radler, und musste trotzdem nur einmal aufs Klo

Ich freu mich auf einen heissen Tee.






Der See heute war himmlisch, mit Sandalen reingesprungen, keine Menschenseele weit und breit. Nur leider hätte ich gerne jemanden zum Reden gehabt. Semigut. Das Konzentrationslager hat mich nämlich mehr mitgenommen, als ich mir eingestehen will. Wenn man sich vorstellt, die gedrängten Menschenmassen...und dabei war es so gross. So viel Fläche.




Am Stacheldraht habe ich mir total unnötigerweise die Wade blutig gerissen, dabei war das Gelände offen zugänglich, wie ich erst später bemerkte. Die blöden Mückenviehcher haben sich natürlich sofort auf die Wunde gestürzt, es war heiss, ich schwitzte: Es brannte!
Dann lag da dieser kleine, feine Knochen vor mir auf dem Boden, mitten auf dem Arial des "Jugend"-KZs. Er war vielleicht so lang wie meine Handfläche und am oberen Ende abgebrochen und gesplittert.




Natürlich sagte ich mir sofort, dass das der Knochen eines Tieres sein müsste. Aber was, wenn...?

Die Sonne brannte und die geflügelten Biester piesackten mich immer mehr. Die Luft schien zu flimmern und alles war verdorrt, trocken und von fahler Farbe.
Ich wollte hier schnell wieder weg, aber am besten an einer anderen Stelle, um nicht wieder dem Stacheldrahtzaun zum Opfer zu fallen. Also ging ich weiter die rostige Linie des zwickenden Wachmanns entlang bis ich schliesslich zu einem Tor kam, vor dem Gespenster an dünnem Drahtseil hingen....



Zu meiner Überraschung war das Tor nicht verschlossen, ich öffnete das alte Stück Metall und ging den Weg zu meinem Fahrrad schneller als nötig zurück.
Das Fahrrad stand unverändert am selben Platz, ich näherte mich ihm vertikal aus derselben Richtung, in die ich es auch verlassen hatte. Daher verstand ich die plötzlichen Dornenäste nicht, die wie dürre Finger aus der Erde ragen und sich in mein Fleisch bohrten; vorher waren sie doch noch nicht dagewesen. Ich konnte in einem resultierenden Anflug von Panik auch nicht verhindern, dass ich plötzlich Kinderkrallen nach mir greifen sah, und das Summen der blutdürstigen Stechmücken in meinen Ohren trieb mich schliesslich vollends in den Wahnsinn.
Irgendwie riss ich mich los und hetzte zurück auf die asphaltierte Strasse. Ich raste die nächsten 30km ohne Pause durch und entfernte mir die letzten Dornen erst Stunden später aus meinen Oberschenkeln.


Tag
3:
Unter Fahrradfahrern scheint es noch das patriarchische System zu geben:

1. Der Mann radelt in 95% der Fälle von zweigeschlechtlichen Radlerpaaren voraus.
2. In Radlerkolonien würde eine Frau wie eine geraubte Sabinerin wirken.
3. Allein fahrende Radlerinnen gibt es nicht.

Das macht mich glaube ich zu einer Emanze und einer Heldin (hoffentlich nicht Märtyerin) für die Genderstudies. Pfui bäh!

Aber alles sowieso nebensächlich, denn: Mir tut alles weh!
Die Wade heilt nicht ordentlich wegen dem ständigen Strampeln, die Fingerkuppen nicht wegen dem ständigen Fahrtwind. Jetzt wird auch der Popo langsam wund. Bepanthen olé-olé! Ich komm mir wieder vor wie damals, als ich noch Windeln tragen musste..

Mückenstiche fang ich erst gar nicht an zu zählen. Ausserdem sieht man rot auf rot nicht, den Sonnenbrand muss ich an der Stelle nämlich auch noch erwähnen.

Und jetzt nach dem ganzen Pipifax noch ein wirklich ernstes Problem: Irgendwas stimmt mit meiner rechten Kniescheibe nicht. Auf der letzten Teilstrecke heute habe ich vor Schmerzen angefangen zu heulen, wohl auch vor Angst und Wut, denn eine gearschte Kniescheibe bedeutet eine gearschte Tour. Zwischen meinem Geheule und Gewimmer hab ich mir dann allerdings auch sehr löblich gedacht,  wie gut es ist, dass ich allein bin, denn wäre jemand dabei gewesen und hätte Mitleid gehabt, dann wär ich sofort k.o. gewesen. Aber wenn man sich am Riemen reissen muss, da man ja gar keine andere Wahl hat und sich nur auf sich selbst verlassen kann in dem Moment, dann entwickelt man wahre Monsterkräfte. Ich bin jedenfalls mit dem schmerzenden Ding immer weiter und weiter auf der Suche nach dem nächsten See gefahren und landete schliesslich mit letzter Kraft um 20 Uhr vor einem Bücherhotel. Als ich das sah, glaubte ich ganz kurz ans Schicksal, warf all meine Hobovorsätze über Bord und buchte mich ein.





Und jetzt: Gute Nacht mit Peter Handke (ein deutscher Beatnik?!)

Tag 4:


- 6 (!) Stunden Regenfahrt!




- mein Knie tut weiterhin weh, aber ich entwickle eine Strampeltechnik, die es weitestgehend nicht belastet und finde heraus, dass die Schmerzen aufhören, wenn ich ab und an einfach kurz absteige und ein paar Meter gehe

- in Rostock nach dutzenden Kilometern Schotterweg und Wald und Wiese - auf dem Asphalt der Grosstadt - 7km vor dem Hafen, von wo aus ich die Fähre nach Dänemark hätte nehmen wollen, -- ein Platten!

- allerdings dadurch auch ein Platten 10m vor dem rettenden Wegweiserschild "Fahrradwerkstatt" (wie oft sieht man denn schon Wegweiserschildchen zu einer Fahrradwerkstatt...?! Schicksal, du Arsch, du willst echt unbedingt, dass ich an dich glaube. Pustekuchen!)

- dadurch auch ein Platten, der mich zu einer Werkstatt führt, dessen Inhaber gleich nebenan ein Internetcafé vernetzt hat

- Couchsurfing ist toll: Innerhalb von einer halben Stunde habe ich eine kostenlose Unterbringung in Rostock und bekomme auch noch eine Privateskorte, denn der Kerl, der gerade zufällig auch im Laden ist, bekommt meine Geschichte mit und bietet sich an, mir den Weg zu zeigen

- Tja, dann ist couchsurfing aber auch wieder nicht so toll, denn: Zwei so (ro)stocksteife Typen, wie meine beiden Gastgeber, habe ich selten zuvor erlebt.

Tag 5:
Auf der Fähre (so gegen 13:30):

Langsam werd ich melancholisch. Da sitzt dieses eine Mädchen mit mir oben an der Reling und wir beide zusammen verringern den Altersdurchschnitt der Passagiere an Bord wahrscheinlich um mindestens zehn Jahre. Da sitzt sie also - rothaarig, frisurlos, ein wenig zerstreut und mit einer Wollmütze - in viel zu weiten Klamotten und liest. Ich will hingehen und hallo sagen. Einfach nur so. Und sie fragen, was sie denn da für ein Buch hat, auch wenn es mir eigentlich total egal ist, was sie liest.
Sie schaut auch ab und zu zu mir rüber. Ich sitze genau wie sie da: Allein auf einer Bank, zerstreut und verstrubelt und lesend - beziehungsweise jetzt im Moment schreibend.
Aber aus irgendeinem Grund tu ich es nicht. Und letztendlich ist es ja auch egal.

Uhrzeit 20:30

Scheisse! Ich werd krank. Die typischen Symptome: Halskratzen, Unwohlsein, saurer Magen, Liderschmerzen.
Was musst ich auch ins Meer springen, ich Doofi! Es war viel zu kalt und viel zu spät. Jetzt ist mein Haar immernoch nass und ich kann meine Füsse reiben, wie ich will: Die werden nicht warm!
Und ich bin zu blöd ein Lagerfeuer zu machen.

Ich habe fünf Kerzen angezündet und alles zusammengerafft, was mich irgendwie warmhalten kann, zwei heisse Zitronen (noch von Sissy..) getrunken und werde jetzt sofort meine Augen zumachen! Nix mehr mit lesen oder den Strand erkunden gehen. Heute muss diszipliniert geschlafen werden, sonst habe ich morgen ein Problem.

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